Erinnerungen [Aus der Werdezeit] by Wilbrandt Adolf von

Erinnerungen [Aus der Werdezeit] by Wilbrandt Adolf von

Autor:Wilbrandt, Adolf von
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: (Privatkopie)
veröffentlicht: 2010-02-02T16:00:00+00:00


IX

Kabale und Liebe und Werther. Kleistbiographie; Berlin, Eggers' Gast. Zöllner. Pfuel. Unterbrechung des Kleistbuchs; Vollendung. Dresden; Semper; Rethels. Gmunden; dramatische Versuche. Der Ramsauer. Der Müllerssohn

Jeder Mensch, der dichterisch Geschaffenes tief empfinden kann, hat wohl aus der Werdezeit einige seelische Erlebnisse dieser Art, die er nie vergißt. Ich hatte als Knabe oft das Glück, die Sommerferien (leider nur ein Monat) zur Stärkung meiner etwas zarten Gesundheit in Rostocks Seehafen Warnemünde zu verbringen, bei einem Großonkel, den ich herzlich liebte und der mich, als ich größer wurde, großväterlich heimlich duldsam aus langen Pfeifen rauchen ließ. Er war Landwirt gewesen, seine Bücherei war klein: Rostocker Chronik, Rostocker Gesangbuch und Schillers Werke. Ich las Schiller dort Jahr für Jahr, und vor allem »Kabale und Liebe«; das ergriff mich auf ganz eigene Art. Ich konnte keine Träne weinen und doch war in mir ein Tränenmeer; so fühlte ich meine Brust gefüllt. Es war die himmlische Wollust eines tiefen, schweren, vernichtend erhebenden Drucks, den ich für kein ungemischtes Freudegefühl hingegeben hätte.

Und diese unaussprechliche Wirkung kehrte jeden Sommer wieder.

Ich war fünfzehn Jahre alt, als die Mutter meiner Mutter starb; die einzige von meinen Großeltern, die ich gekannt, eine zarte, liebreiche Frau, deren Jugendschicksal ich später in einer Novelle »Die Brüder« erzählt habe. Sie heiratete, sechzehn Jahre alt, den einen dieser Brüder, fühlte dann mehr und mehr, daß sie den andern liebte und daß er sie liebte; nach tiefen seelischen Leiden gab der Gatte sie frei, der in schwärmerischer Liebe an dem Bruder hing; der von ihm bittend angerufene Landesherr und Landesbischof trennte die Ehe, und Annette ward die Gattin des andern, zu langem und glücklichem Bund. Als sie uns nun verlassen hatte, sollte aus ihrem kleinen Bücherschatz auserlesen werden, was von Wert war und in der Familie bleiben sollte; mich, den jungen »Bücherwurm«, bestimmte man dazu, diese Auswahl zu treffen. In einem damals unbewohnten und leeren Zimmer unseres Hauses kauerte ich bei dem Bücherhaufen am Fenster, und wie Aschenputtel die Linsen aus der Asche las, las ich die guten Bücher aus dem Pöbel ohne Wert heraus. Ein abgegriffener alter Schmöker fiel mir in die Hand: »Leiden des jungen Werther«; der erste Druck. Ich hatte vom Werther bis dahin nur gehört, ihn noch nicht gelesen. Ein wenig hineinschauen! dachte ich, legte das Buch auf das Fensterbrett, kniete davor nieder und fing auf der ersten Seite an. Ich las und las. Ich geriet in einen Zustand, den ich nie erlebt; Staunen, Rausch, Entzückung, selig verzehrendes Mitgefühl, Hinschmelzen in jede Seelenpein, hochaufrasende Schwärmerei, Wonne der Selbstvernichtung, schaurig süßes Vergehn. Wie haben die Knie es ausgehalten? Es waren zwar Turnerknie. Sie hielten es aus. Das Buch war zu Ende, als ich wieder aufstand, so tragisch glücklich wie je ein Mensch.

Noch einmal hab' ich ähnlich gefühlt: als ich mit achtzehn Jahren den Werther zum zweiten Mal las. Ich erstaunte grenzenlos, daß er mich zum zweiten Mal so zerschmettern und verhimmeln konnte. Es fehlte aber doch das Knien und die Überraschung.

Das sind allerhöchste Erlebnisse und zugleich die mächtigsten Beweise unsrer unergründlichsten Eigenschaft: daß



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